Der größte Erfolg der 68er

Zum Trinken viel zu schade

Was Sie schon immer über Grappa wissen wollten

Meine erste Grappa habe ich 1975 getrunken, auf einem Seminar, heute würde man Theorie-Workshop sagen, der SDS-Basisgruppe Germanistik Hannover im ligurischen Pompeiana. Wir lasen damals Benjamin und Hegel, studierten morgens ausgiebig das Feuilleton des Klassenfeindes, die FAZ, und abends die Feinheiten der italienischen Küche. Aus Deutschland Rachenputzer gewohnt, die einem die Kehle verbrannten oder den Mund verätzten, wurde ich nach einem dieser „Abendessen“ von einer Grappa überrascht, die einen vollen Geschmack im Mund hinterließ, dann ein leichtes Kratzen im Hals verursachte und schließlich ganz sanft die Speiseröhre runterkroch. Perfekt.
Zur Revolution, die wir damals lauthals postulierten, kam es nie.
Aus Rebellen wurden Weinhändler und aus Hegelianern Grappa-Fans. Gemeinsam waren wir so stark, wenn schon nicht die Gesellschaft, so doch wenigstens die Trinkgewohnheiten zu ändern. Statt zu Liebfrauenmilch und Schinkenhäger griffen die Deutschen fortan immer öfter zu trockenen Weinen oder einer Grappa. Zweifellos der größte messbare Erfolg der 68er.

Ideologische Probleme gab es zunächst nicht. Die Grappa galt als
ökologisch korrekter Arme-Leute-Schnaps, weil sie aus den Schalen
ausgepresster Weintrauben gewonnen wird. Lange Zeit geschah dies sogar illegal, denn das Destillieren war in Norditalien streng konzessioniert und dem gemeinen Volk nicht erlaubt. Bis zur Amnestie 1898 mussten Schwarzbrenner während der Weinlese von Hof zu Hof ziehen, um aus den Weinresten, dem Trester, heimlich einen Schnaps herzustellen, der half, die damals noch deftige norditalienische Küche besser zu verdauen.
Die Legalisierung blieb nicht ohne Folgen. Mit der Zeit wurde aus
dem Arme-Leute-Schnaps ein Luxusprodukt, das sich international
und dauerhaft etablierte. Dass die Grappa zum Klassiker wurde und in den Neunzigerjahren auf einer Stufe mit feinen Obstbränden, edlen Malt Whiskys oder charaktervollen Cognacs stand, war allerdings nicht nur eine Geschmacksfrage.
Nachdem die Familie Nonino erstmals Treber verschiedener
Weinberge getrennt destilliert, 1967 ihre erste Jahrgangs-Grappa
präsentiert und auf dem Etikett die Trestermenge und die Zahl der
daraus erzeugten Flaschen vermerkt hatte, dominierten Marketing und Design die Grappa-Produktion wie in den 2010er-Jahren die von Gin. Antonella Bocchino stellte, inspiriert von Patrick Süskinds Roman Das Parfüm, Blütendestillate aus Rosen oder Akazien her. Durch Zusatz von Kräuterauszügen oder Früchten wurden aromatisierte Grappa erzielt. Und es gab Grappa in mundgeblasenen Viertelliter-Fläschchen mit handgeschriebenem Etikett, aus Bleikristall, in allen möglichen Farben, für jeden Jahrgang eine neue Form. Das Auge trank schließlich mit.

Eintausend Kilogramm Trester werden benötigt für 150 Kilo hochprozentige Grappa. Je länger der Brennprozess dauert, desto reiner und komplexer das Produkt. Sechs Monate Reife sind gesetzlich vorgeschrieben, dann kann die junge, weiße Grappa konsumiert werden. Erst wenn sie weitere anderthalb Jahre im Eichenfass lagert, wird die „Riserva“, wie sie dann heißt, bernsteinfarben und weich und rund im Geschmack.
Anders als bei uns, war sie in Italien weit mehr als ein Yuppie-
Drink. Dort wird noch heute ein kleiner Schuss beim Kochen zum
Abschmecken genutzt. Im Friaul wird in der Neujahrsnacht traditionell Pinza serviert, ein süß oder salzig gefülltes Hefegebäck, das mit Grappa flambiert wird, um böse Geister zu vertreiben. Wenn Venedig Karneval feiert, wird die Eiscreme für die Schokoladentorte Dolce di Carnevale mit Grappa aromatisiert. In der Fastenzeit gibt’s Fisch, kalt gegart in einer Zitronen-Grappa-Mischung mit Kräutern mariniert oder mit Grappa beträufelt vom Grill. Grappa veredelt Marmeladen, würzt den Obstsalat, gibt der Zabaione secco Geschmack, intensiviert die Pesto, mindert den Olivenöl-Duft der Antipasti und kühlt in heißen Sommmern als Sorbet. Man kann mit ihr Pizzen und Kräuterbrote bepinseln, Panettone, Kekse und Gebäck. Im Piemont wird im Herbst Bagna Cauda serviert, ein cremiger Dip aus Knoblauch, Öl, Sardellen und einem Schuss Grappa, in den man Gemüse und Grissini taucht. Und in der Jagdsaison dient Grappa als Saucenaromat, Geschmacksgeber an Preiselbeeren oder als Marinadenzutat für ein köstliches Rehgulasch.
Zum Trinken ist eine Grappa somit eigentlich zu schade. Aber
einer muss es ja tun.

Auszug aus „Gastromania“ von Hollow Skai (217 Seiten, Euro 9,99), erhältlich in allen Online-Buchshops und Buchhandlungen oder bei www.bod.de

Fotos: Depositphotos

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